Freiheit, Gleichheit, Schwesterlichkeit?

Ein Kommentar von Bernhard Schüßler, Vorstandsmitglied des Grünen Ortsverbands

Die EU als Vollendung der Französischen Revolution?

Die Französische Revolution gilt als Geburtsstunde der modernen Europäischen Demokratie. Das Aufbegehren der Bürger und Bauern fegte den Absolutismus hinweg und verbreitete erstmals nachhaltig die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Die Revolution hingegen, endete in Gewalt und scheiterte vorerst.

Der größte Philosoph der Gegenwart schrieb 1989 eine Abhandlung zum 200 jährigen Jubiläum der Revolution. Darin spricht Jürgen Habermas diesem Umsturz Eigenschaften zu, die sich zuvor nicht im politischen Denken etabliert hatten. Der Anspruch der Rebellen war eine universale Anwendung der Menschenrechte, eine Erfindung der Europäischen Aufklärung. Und tatsächlich, wäre die Französische Revolution ohne die etwa 150 früheren Jahre, kritischen und eigenständigen Denkens und Zweifelns nicht zu Stande gekommen. Die Revolutionäre in Frankreich brachten zweifelsohne die Ideale und Maximen eben jener theoretischen Aufklärung zum ersten Mal auf die Politische Ebene ein. Der Verlauf der Revolution, ihr blutiges Ende und der Aufstieg Napoleons waren hingegen denkbar ungünstig für die Demokratisierungsbestrebungen, denn die Machthaber und der Adel wussten die Angst vor Bürgerkrieg für ihren Machterhalt zu nutzen. Die Pariser hatten versäumt, das Kant’sche Ideal vom „ewigen Frieden“ in ihre Forderungen aufzunehmen und nahmen die Gewalt in Kauf, um sich durchzusetzen.

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts erkannten die Eliten, dass sie angesichts immer wiederkehrender Unruhen die Begründung ihrer Machtposition verändern müssten. Die Nation und die Republik, Ideale, von denen sich die Aufständischen von 1789 mehr Freiheit und Gerechtigkeit versprachen, wurden von den Obrigkeiten missbraucht, um militärisch aufzurüsten oder wirksame Feindbilder gegenüber Nachbarländern im Wettlauf um die Kolonien zu schaffen. Man hat sich auf den Krieg vorbereitet und Generationen von Erbfeinden indoktriniert, was im ersten Weltkrieg endete, der Urkatastrophe des 20. Jhd.

Die Vorläuferorganisation der EU weitete den Wahlspruch von 1789 auf die Nachbarländer aus. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sollten nicht nur innerhalb der Landesgrenzen praktiziert werden, sondern auf der ganzen Welt. Europa hatte aus der größten Katastrophe der Geschichte gelernt und wusste, dass man alles tun müsste, um sie nie wieder aufkommen zu lassen. So wurde der „ewige Friede“ von Immanuel Kant zum Leitmotiv einer von Hass zertrümmerten Menschheit.

Erst als die Aufklärung auf alle Gesellschaftsbereiche angewendet wurde, waren die Menschen bereit sich zu verbrüdern, wie es passend in der Europahymne heißt. Die Annäherung war langwierig, denn das verlorene Vertrauen von Jahrhunderten musste wieder hergestellt werden. Mit der wirtschaftlichen Zusammenarbeit sollte ein Krieg technisch unmöglich werden, mit Städtepartnerschaften, Erasmus, Abschaffung der Binnengrenzkontrollen und Arbeitsaustausch, sollte die Erbfeindschaft aus den Köpfen verschwinden. Vor Allem zwischen Deutschland und Frankreich hat es wunderbar funktioniert. Heute sind diese Länder der Motor Europas und zugleich ein leuchtendes Beispiel für geglückte Völkerverständigung.

Durch die Freundschaft erkannten wir, dass uns viel mehr eint als trennt, von gemeinsamer Geschichte, Kultur und Literatur bis zur Liebe zum Fahrrad. Und genau wie die Bürger in Paris die Bastille stürmten, weil sie die Unterdrückung der Bevölkerung symbolisierte, rissen die Bürger in Berlin den eisernen Vorhang ein, weil sie die Spaltung endlich überwinden wollten. Es war dieser rührende Akt, diese friedliche Revolution, die die Europäische Einigung erst möglich machte. Weder Deutschland noch Europa sollten länger geteilt sein, sondern zusammenwachsen und zusammenleben.

Die sogenannte Aufklärung verstehe ich als einen fortlaufenden Prozess von Emanzipationen. Sie formen unsere Gesellschaft und verändern andauernd unseren Wertekanon. Die Französische Revolution emanzipierte den dritten Stand im Absolutismus, die Frauenbewegung die Frauen und so weiter bis heute. Die EU bietet uns ein gemeinsames Fundament und eine gemeinsame Decke, in denen wir diese Emanzipationen frei und gleich weiterführen können.

In diesem Sinne ist die EU nicht als Vollendung der Französischen Revolution zu verstehen, sondern als deren Fortführung nach den Irrwegen des Nationalismus und des Krieges. Diesmal friedlich und diesmal für alle, sind die Ideale der Revolution von damals in einem demokratischen und solidarischen Europa am besten aufgehoben. Freiheit, Gleichheit und Schwesterlichkeit dienen heute als Leitlinien für diplomatische Verhandlungen. Diese Errungenschaft der Aufklärung ist der Nährboden für unsere EU.

 

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