Die Denunziation des Faktischen

Wahrheit und Wahrhaftigkeit haben einen schweren Stand gegenüber Fake News und Framing, zwei der Übel unserer Zeit. Beides zielt darauf ab, unser Urteilsvermögen zu beeinflussen – durch Unwahrheit bzw. Vorgabe eines Deutungsrahmens.

Der Gottesdienst, den meine Frau und ich neulich besuchten, war von der Cantate-Jugend gestaltet worden. Alljährlich gibt die evangelische Kirche zur Fastenzeit eine Losung aus: „Sieben Wochen ohne…“ Dieses Jahr ist es „Sieben Wochen ohne Lügen“. In den vorbereiteten Rollenspielen ging es vielfach um Alltags- und Höflichkeitslügen. Die Frage, ob ein konfliktarmes Zusammenleben ohne diese möglich ist, ist schwer zu beantworten. Es hängt vom Einzelfall ab. Es ist aber gut, dass wir uns zumindest für eine begrenzte Zeit bewusst werden, wie oft uns diese Schwindeleien über die Lippen gehen. Und es ist gut, mal darüber nachzudenken, ob unser Verhalten nötig oder nur gedankenlos und bequem war.

Das achte Gebot spricht die Lüge im Allgemeinen gar nicht an. Es bezieht sich vielmehr auf die sehr konkrete Situation einer Gerichtsverhandlung („Du sollst nicht falsch Zeugnis reden … “). In biblischer Zeit hatte eine Verurteilung drastische Folgen. Deswegen die Ermahnung, die Rolle als Zeuge und/oder Richter verantwortungsvoll wahrzunehmen. Im Neuen Testament wird das Gebot an vielen Stellen verallgemeinert und erweitert. Dahinter steht das Wissen um die Verunsicherung, die von der Verdrehung der Wahrheit ausgeht. Lügen, Leugnen und Täuschen brechen die Treue und trüben das gegenseitige Vertrauen.

Heute scheint das in der Politik, zu der ich jetzt kommen will, keine Rolle mehr zu spielen. Es wird gelogen, auf der großen wie auf der kleinen Bühne. Ein bisschen war das schon immer so. Doch früher war das Ertapptwerden eine peinliche Angelegenheit, je nach Bedeutung sogar ein Rücktrittsgrund. Heute machen sie einfach weiter, als sei nichts geschehen.

In Kirchheim geht man weiter. Der Anstich am Nockherberg ist noch nicht lang her. Wir wissen: Jeder will dabei sein, jeder will genannt sein. Auch hier darf daher jeder seinen Namen lesen.

Bei uns im Gemeinderat diskreditieren Frank Holz, Beate Neubauer, Gerd Kleiber und andere mein Beharren auf Fakten als „nicht konstruktiv“.

Damit die Demokratie funktioniert, dürfen Fakten nicht zur Meinung degradiert und Lügen nicht zu alternativen Fakten befördert werden. Fakten sind Fakten. Ohne Fakten keine Basis für eine Zusammenarbeit. Bäume wurden entweder gefällt oder nicht. Ein Baubeginn war entweder für 2020 geplant oder nicht. Die Auslobung zum neuen Gymnasium hatte entweder den Erhalt des vorhandenen Biotops als Ziel formuliert oder nicht (Zitat aus der Auslobung: „Das Biotop kann überplant werden.“)

Die SPD ist diesbezüglich wenig hilfreich. Marcel Prohaska zog den Streit um die Fakten neulich ins Lächerliche: „Na toll, haben Sie also wieder Recht gehabt. Schön, dass wir das festgestellt haben.“ Und Ewald Matejka hatte sich in der letzten Gemeinderatssitzung gewünscht, ich würde mich für die Menschen genauso einsetzen wie für die Bäume. Flora und Fauna spielen bei mir die zweite Geige. Zuvorderst kommen für mich die elementaren Grundsätze der Demokratie. Dabei geht es um die Menschen und das Gestalten des Miteinanders. Der Bürger soll als Souverän souverän faktenbasierte Entscheidungen treffen können.

Unser Bürgermeister ist nicht nur virtuos im Verbreiten alternativer Fakten. Ebenso meisterhaft definiert er Deutungsrahmen, in denen höchst erstaunliche Zahlen mit einer Beiläufigkeit daherkommen, dass sie schon wieder vergessen sind, kaum dass sie ausgesprochen wurden. So zum Beispiel das Verhältnis von Ein- zu Mehrfamilienhäusern. Sie erinnern sich: Bürgerbetei­ligung wurde bei der Neuauflage der Planungen ganz groß geschrieben. In moderierten und unmoderierten Workshops wurden die Eckpunkte festgelegt. Unter anderem: Der Charakter Kirchheims sollte sich mit dem Zuzug der 3.000 Neubürger nicht verändern. Beim Verhältnis Ein- zu Mehrfamilienhäusern war die Richtschnur mit Spielraum hin oder her 2:1. Dann wurde das Paket Kirchheim2030 geschnürt. Hopp oder top, alles oder nichts hieß es für die Bürger. Das Verhältnis war nun ca. 1:1. Der aktuelle Stand von Kirchheim2030 wurde uns am 12. März im Gemeinderat vorgestellt. Es seien noch „Feinjustierungen“ vorgenommen worden.

Wenn so ein Wort fällt, heißt es Obacht geben. Ich weiß nicht, was Sie unter Feinjustierung verstehen, aber wenn die Zahl der Einfamilien-(Reihen-)häuser von 330 auf 231 sinkt während die Zahl der Wohnungen von 900 auf 1.139 steigt, stellt sich für mich die Frage, inwiefern das noch etwas mit dem zur Abstimmung gestellten Entwurf zu tun hat. Was man so hört, wird sich unser Bürgermeister bei einer CSU-nahen Stiftung als Referent für Bürgerbeteiligung betätigen. Mir scheint, da wurde der Bock zum Gärtner gemacht. Aber es passt in die Zeit.

Tanja Heidacher (SPD) bemerkte nach meiner Kritik an den Zahlen, ich müsse doch froh sein wegen Flächenversiegelung usw. Keine Ahnung, ob sie meine Antwort überhaupt hören wollte. Jedenfalls sollte ganz oben die Verpflichtung stehen, das per Bürgerentscheid Beschlossene umzusetzen. Wenn mir Geld anvertraut wird, mache ich davon auch keine Weltreise, weil ich das schon immer vorgehabt habe. Frau Heidacher hat sich mit Ihrer Bemerkung ein gutes Stück hinter die CSU gestellt, die meinen Vortrag zu den „Feinjustierungen“ – wie schon andere Bemerkungen in anderen Sitzungen – als „nicht konstruktiv“ empfunden haben wird.

Ich weiß nicht, was die evangelische Kirche nächstes Jahr für ein Fastenmotto haben wird. Meine Losung für mehr Wahrheit und Wahrhaftigkeit im Gemeinderat wird lauten: „Sechs Jahre ohne CSU“. Eine moralische Erneuerung wäre gut – vor allem für Kirchheim. Bei der SPD habe ich noch Hoffnung. Sie möge diese Kolumne als Weckruf betrachten. Mein Humor ist endlich.

R.Zwarg