35 Jahre Tschernobyl

Es gibt noch viel zu tun. Die Atomgefahr ist auch am 35. Jahrestag von Tschernobyl noch lange nicht vorbei.

 

Mit diesem Beitrag schließen wir uns der Erinnenungsaktion der Grünen Fraktion im Bayerischen Landtag an. Im Text sind die sehr persönlichen Erinnerungen unserer Ayinger Grünen als Zitate eingestreut.

Ein Freund hatte damals gerade Physik Leistungskurs. Der Geigerzähler der Schule machte an den Pfützen im Schulhof nur einen Dauerton. Dann lötete der Leistungskurs die Lautsprecherdrähte an eine Taste eines alten Taschenrechners und ermittelten mit Stoppuhr und +1 Rechenoperation die Strahlenbelastung

Martin Stümpfig, Sprecher für Energie und Klima der Grünen Landtagsfraktion: „Auch nach 35 Jahren bleibt Tschernobyl für uns eine Mahnung. Noch immer sind zwei Reaktoren in Bayern in Betrieb (Gundremmingen C und Isar II) und wir erwarten sehnsüchtig die Stilllegung in den kommenden 20 Monaten. Vor den Toren Münchens steht ein Atomforschungsreaktor, der noch immer mit hoch angereichtem, waffenfähigem Uran bestückt wird. Und in den drei Bayerischen Zwischenlagerns stehen weit mehr als 100 Castoren mit fast 2000 Tonnen hochradioaktiven abgebrannten Brennelementen. Für diese Zwischenlager gibt es bis heute keine Zeitperspektive, wann sie geleert werden, obwohl Halle und Castoren nur für 40 Jahre genehmigt sind und davon schon bald die Hälfte der Zeit abgelaufen ist.“

Meine Oma und mein Onkel haben damals schon länger in Kiew gelebt, und ich habe dort jährlich die dreimonatigen Sommerferien verbracht. Als der Supergau geschah, hatten wir zunächst überhaupt keine Informationen. Ich kann mich nur an eine unglaublich bedrückende Stimmung erinnern, weil niemand etwas genaueres wusste, außer dass etwas Schreckliches und sehr gefährliches passiert haben muss. Meine Oma hat uns nur am Telefon erzählt, dass täglich vermummte Soldaten auf Panzerfahrzeugen im Morgengrauen durch die Stadt fuhren und die radioaktive Asche mit Schläuchen von Bäumen etc abspritzten. Aber niemand wusste wie man sich genau schützen sollte. Mein Eltern beschlossen, mich in diesem Sommer nicht nach Kiew zu schicken. Vom wahren Ausmaß der Katastrophe haben wir erst viel später erfahren, ich persönlich erst 1993 in Deutschland. Ich weiß bis heute nicht, ob mich spätere Aufenthalte in der Ukraine gesundheitlich irgendwie beeinflusst haben… Mein Onkel ist relativ jung an Leukämie verstorben, aber es wurde niemals hinterfragt, ob es mit der Strahlenbelastung zusammengehangen haben könnte. Das menschliche Leben ist in unterschiedlichen politischen Strukturen unterschiedlich viel wert – das vergesse ich nie mehr.

„Der 35. Jahrestag des Reaktorunfalls in Tschernobyl am 26. April in der Ukraine ist für die bayerischen Grünen in vielfacher Weise ein denkwürdiger Tag. Der GAU von Tschernobyl war nur wenige Jahre nach dem Unglück im amerikanischen Harrisburg 1979 der zweite große Unfall in der damals noch aufstrebenden Atomwirtschaft. Noch mehr als Harrisburg zeigte Tschernobyl die Unbeherrschbarkeit der Atomkraft. Vielen sind noch die Bilder der hilflos agierenden, zum Zwangsdienst verpflichteten Liquidatoren im Kopf, die mit ihrem Einsatz ihre Gesundheit und ihr Leben unwissend opferten beim Versuch noch Schlimmeres zu verhindern.

An den Tag genau kann ich mich nicht mehr erinnern. Allerdings daran, dass daraufhin keine Milchprodukte mehr verzehrt werden sollten. Meine Eltern, mein Bruder (5) und ich (18) hatten täglich Milch, Butter, Käse und Joghurt auf dem Tisch, das war ein großer Einschnitt und ein sehr beklemmendes Gefühl. Alles, was im Freien produziert wurde, war ja betroffen. Im Sommer sind wir dann zum ersten Mal nach Spanien in den Urlaub gefahren, weil dort die atomare Wolke nicht drübergezogen ist und wir 3 Wochen lang alles umbeschwert essen konnten. Meine bereits damalige Haltung gegen Atomkraft wurde durch das Ereignis nochmal stark verschärft.

Tschernobyl war aber auch die traurige Bestätigung, dass die Nutzung der Atomkraft bei weitem keine nationale Frage ist, sondern auch eine Bedrohung in mehr als 1000 Kilometern Abstand. Hilflos reagierten auch die deutschen Behörden, als die radioaktive Wolke über Bayern abregnete und die Wiesen und Spielplätze verstrahlte und die Salatköpfe verseuchte.

Ich war neun Jahre alt. Wir haben in den ersten Tagen nichts erfahren… erst aus dem Westfernsehen, auch die Warnungen, was man alles nicht tun sollte. Es war sehr warm und sonnig in meiner Erinnerung, ein sonniger, heißer Mai. In der Schule gab es häufig grünen Salat zu essen, in Zitroniger-Zucker-Dressing. Lecker, den gab es nicht so oft. Später habe ich erfahren, dass es so viel Salat gab, da der Westen keine Gemüseexporte aus der DDR mehr annahm, da alles als verseucht galt. Doch wir durften es essen. In den Folgejahren schnellten die Schilddrüsenerkrankungen in die Höhe und viele Jahre später die Krebsraten in meiner Region, bis heute. Doch da schaut man lieber nicht so genau hin. Auch ich habe zwei Autoimmunerkrankungen davon getragen, die ich sonst meiner Überzeugung nach nicht bekommen hätte. Atomkraft lehne ich entschieden ab, das Risiko Mensch und die Abfälle, die auf unzählige Generationen hinaus die Erde verseuchen, sind nicht beherrschbar. Es heißt Atomkraft kann das Klima retten, aber um welchen Preis. Ich hoffe, der Mensch ist schlau genug, andere, saubere und effiziente Technologien zu finden, bevor es zu spät ist.

Für uns Grüne, die ja nicht unwesentlich aus der Anti-AKW-Bewegung entstanden sind, war Tschernobyl der lebende, aber traurige Beweis unserer Argumente. Und gleichzeitig war es die Zeit des Höhepunkts der Auseinandersetzung um die atomare Wiederaufarbeitungsanlage in Wackersdorf. Wenige Wochen davor, beim Ostermarsch waren mehr als 100 000 Menschen auf dem Weg zum Baugelände und wurden unter Einsatz von CS-Gas in Schach gehalten. Dabei starb ein Demonstrant an einem Asthma-Anfall. Und wenige Wochen nach Tschernobyl, an Pfingsten eskalierte die Situation erneut. 44 Wasserwerfer aus dem gesamten Bundesgebiet versuchten das Baugelände zu sichern. Weitere Demonstrationen folgten. Gerade die Erfahrung von Tschernobyl stärkte das Bündnis der WAA-Gegner*innen, das in seiner Breite (von Autonomen Linken bis hin in tief konservative Kreise) einmalig war. Und es war mit großer Wahrscheinlichkeit auch gerade diese Kombination aus dem Wackersdorfwiderstand und dem Unglück von Tschernobyl, dass im Oktober dieses Jahres erstmals eine Grüne Fraktion in den Bayerischen Landtag einzog. Mit 7,5 Prozent kamen die Grünen locker über die 5 Prozent-Hürde, an der sie bei der Wahl vorher noch gescheitert waren. Seitdem kämpfen wir hier gegen Atomkraft.“

Ein Auto fuhr durch die Straße mit einem Lautsprecher auf dem Dach und forderte alle auf, drinnen zu bleiben und die Fenster zu schließen. Meine kleine Schwester (3) und ich (6) verbrachten dann fast 3 Monate in Italien, „weil es da weniger regnet als hier“ (wir lebten in einer niederschlagreichen Region in NRW). Auch in Italien hatten alle Angst vor Wolken und Regen, aber es gab beides nicht. Als wir zurückkamen, war mein Vater ausgezogen, auch eine Art nukleare Katastrophe in Miniatur. Aus dem Sommer 1986 habe ich gelernt, dass Nachhaltigkeit und Transparenz die Welt retten wird, im Großen wie im Kleinen.

 

 

 

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Schlagwörter: 35 Jahre Tschernobyl Atomkraft nein danke Energiewende


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